For Mondays #2, Michael Hagner + Merle Radtke: Gerhard Richters Installation Zwei Graue Doppelspiegel für ein Pendel

Seit Juni 2018 befindet sich Gerhard Richters Installation Zwei Graue Doppelspiegel für ein Pendel in Münsters Dominikanerkirche, die 1708–1725 nach Entwürfen des Architekten Lambert Friedrich von Corfey erbaut wurde. Als Teil der Sammlung der Stadt Münster wird das Werk von der Kunsthalle Münster betreut. Den Mittelpunkt von Richters Installation bildet ein Foucault’sches Pendel, bestehend aus einer Metallkugel (ø 22 cm, 48 kg), die mit einem 28,75 Meter langen Edelstahlseil in der Vierungskuppel der barocken Kirche befestigt ist. Das Verhältnis des Pendels zur sich drehenden Erdoberfläche lässt sich an der skalierten Bodenplatte ablesen. 1851 machte der französische Physiker Léon Foucault im Pariser Panthéon mit einer vergleichbaren Apparatur die nicht unmittelbar wahrnehmbare, jedoch alles beeinflussende Erdrotation für eine breite Öffentlichkeit sichtbar. Mit seinem Versuch führte er vor Augen, dass sich die Fläche unter dem freischwingenden Pendel langsam dreht. Auch wenn die Rotation der Erde Mitte des 19. Jahrhunderts längst bewiesen war, war der augenfällige Nachweis neu und spektakulär. In Richters Versuchsanordnung wird das Pendel von zwei paarweise angebrachten grauen Spiegeln flankiert – ein Material, mit dem der Künstler bereits seit den späten 1960er Jahren arbeitet und die das Werk mit dem Gebäude und allem, was zwischen ihnen passiert verbinden.

Richters Zwei Graue Doppelspiegel für ein Pendel ist mehr als ein physikalischer Versuch. Die Arbeit findet sich in einer Gemengelage aus Wissenschaft und bildender Kunst, aus Naturgesetz und subjektivem Erleben wieder. In der zweiten Episode von For Mondays spricht Merle Radtke mit Michael Hagner, der 2021 sein Buch Foucaults Pendel und wir. Anlässlich einer Installation von Gerhard Richter veröffentlicht hat, über die Hintergründe des Buchs, in dem er eindrücklich die öffentliche Darbietung des Versuchs von seiner ersten Zurschaustellung im Panthéon bis zur Installation Gerhard Richters in Münster nachzeichnet, über das Verhältnis des Werks zum Pariser Vorbild und die Geschichte der Konkurrenz zwischen religiösen und wissenschaftlichen Weltbildern.

Michael Hagner (geb. 1960) studierte Medizin und Philosophie an der Freien Universität Berlin (1980–1986). 1987 erfolgte die Promotion zum Dr. med., danach war er Postdoc am Neurophysiologischen Institut der FU (1987–1989) und Visiting Scholar am Wellcome Institute for the History of Medicine in London (1989). Es folgten Tätigkeiten als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte der Universität Lübeck (1989–1991) und am Institut für Geschichte der Medizin der Georg-August Universität Göttingen (1991–1995), wo er sich 1994 an der Medizinischen Fakultät habilitierte. Ab 1995 war er am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin tätig, zunächst als Heisenberg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft (1995–1996), dann als Senior Scientist (1997–2003). Seit 2003 ist er ordentlicher Professor für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich. Er hatte zudem Gastprofessuren in Salzburg, Tel Aviv, Frankfurt am Main und Köln inne. 2006 und 2007 war er Fellow am Zentrum für Literatur und Kulturforschung, Berlin; 2008 war er Fellow an der Maison des Sciences de L'Homme, Paris. 2000 wurde er mit dem Preis der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet, 2008 mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Seine Forschungsschwerpunkte sind die historische Epistemologie der Humanwissenschaften, Visualisierungsstrategien in den Lebenswissenschaften, das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft, Geschichte der Kybernetik.

Merle Radtke (geb. 1986) ist Kunsthistorikerin und Kulturanthropologin, sie arbeitet als Kuratorin und Autorin. Seit Juli 2018 leitet sie die Kunsthalle Münster. Zuvor war sie als Kuratorin u. a. für die Hamburger Kunsthalle, das Kunstmuseum Stuttgart und die Jürgen Becker Galerie tätig. Von 2015 bis 2017 war sie Mitglied des Graduiertenkollegs Ästhetiken des Virtuellen an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg. Als Stipendiatin der Villa Kamogawa/Goethe-Institut Kyoto folgte ein Forschungsaufenthalt in Japan. Regelmäßig veröffentlicht sie Texte zu zeitgenössischer Kunst und Kultur. Schwerpunkte ihrer Arbeit bilden die Praxis und Theorie des Internets, die (post-)digitale Kunstpraxis und die feministische Kunst sowie Fragen zum Verhältnis von Original, Kopie und Simulation. In der Kunsthalle Münster realisierte sie u.a. die Einzelausstellungen von Mary Beth Edelson (2018), Christiane Blattmann (2019), Katia Kameli (2020), Daniel Steegmann Mangrané (2020) und Mikołaj Sobczak (2022) sowie die Gruppenausstellungen Sensing Scale (2021), ton not. not ton (2021) und Nimmersatt? Gesellschaft ohne Wachstum denken (2021).

For Mondays ist eine Produktion der Kunsthalle Münster. Konzeption: Merle Radtke. Redaktion und Koordination: Artefakt Kulturkonzepte, Jana Bernhardt und Merle Radtke. Produktion: Bela Brandes. Intro: Arne Lenk. Grafikdesign: JMMP – Julian Mader und Max Prediger.

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Weitere Episoden:

For Mondays #5, Silke Wagner + Merle Radtke: münsters GESCHICHTE VON UNTEN

For Mondays #4, Tekla Aslanishvili + Vera Tollmann: Scenes from Trial and Error

For Mondays #3, Adrian Williams: One Word

For Mondays #1, Gail Kirkpatrick + Merle Radtke: Von der Städtischen Ausstellungshalle am Hawerkamp zur Kunsthalle Münster