Tom Otterness, Überfrau, 1993, 51°57'46.6"N 7°37'53.1"E

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Tom Otterness, Überfrau, 1993

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Wie eine Wächterin über das Wissen, was hinter ihr liegt, empfängt die kolossale Überfrau die Besucher:innen der Stadtbücherei Münster, während sie die „Bibliotheksgasse“ durchwandern und bereits von außen einen Blick ins Innere des Gebäudes werfen können. Skulptur und Architektur können durchaus den Anspruch erheben, eine künstlerische Einheit zu sein. Die Stadtbücherei am Alten Steinweg wurde 1991 bis 1993 nach Plänen des Architekturbüros Bolles-Wilson und Partner gebaut, wobei die Architektin Julia Bolles-Wilson von vornherein eine Skulptur am Ende der schmalen Gasse zwischen den beiden Gebäudeteilen eingeplant hatte. Den Auftrag für die Gestaltung der Skulptur an der Stadtbücherei erhielt der US-amerikanische Bildhauer Tom Otterness (geb. 1952 in Wichita, Kansas), dessen monumentale Skulpturen für den öffentlichen Raum sich u.a. auf dem Vorplatz des Justizgebäudes in Los Angeles und im Battery Park in New York finden. Im Zusammenspiel mit der Architektur des öffentlichen Gebäudes entstand die Überfrau als „Kunst am Bau“. 1

Die Hünin von acht Metern Höhe, gewinnt ihre Gestalt durch eine gerüstähnliche Konstruktion aus Edelstahl, die Beine und Torso der Figur als transparente Körperteile erscheinen lässt. Im Inneren des Körpers zeichnen sich die bronzenen Rudimente eines Kreislaufsystems ab: ihr Herz, eine kugelförmige Pumpe mit vielen Schläuchen als Arterien, die weniger an ein Gefühlszentrum als an einen Heizungskeller erinnern. 2 Manche Körperteile hat Otterness vollplastisch ausgearbeitet, einen Fuß und die Andeutung der weiblichen Scham. Im Kontrast zu der Konstruktion der großen Figur stehen die Miniaturfiguren, die in und um die Riesin herum positioniert sind und gerade mit dem Auf- oder Abbau dieser mächtigen Frau beschäftigt zu sein scheinen. Die comicartigen Miniaturen stehen einzeln und in Gruppen und hantieren mit zu großem Werkzeug oder schreiben mit einem riesigem Füller in überdimensionierte Bücher. Ein Wechselspiel von Kleinformatigem und Monumentalem bedingt das Aussehen der Figur.

Otterness arbeitet seit den frühen 1980er Jahren im Spannungsfeld Kunst und Architektur. Ausgangspunkt ist dabei häufig der menschliche Körper, dessen plastische Möglichkeiten er durchspielt, während er ihn gleichzeitig auf rudimentäre Formen reduziert. Er hat einen stromlinienförmigen Körpertypus entwickelt und Körperhaltungen, die auf verschiedene kulturelle Quellen zurückgehen. Vor allem Mythen um mächtige weibliche Gottheiten faszinieren ihn. Die Überfrau nimmt Bezug auf die klassische Ikonografie – die weibliche, heroisch wirkende Figur als Personifikation der Weisheit und Wahrheit. Eine Rolle, die der Überfrau gerade in Verbindung mit der Bibliothek, der Behausung des Wissens, zuzustehen scheint.

Begleitend zur Einweihung der Skulptur im Jahr 1993 wurde in der neu eröffneten Stadtbücherei eine Ausstellung gezeigt, die den Entstehungsprozess der Riesin dokumentierte und ihr Verhältnis zur Architektur manifestierte. Die Überfrau kann als Beispiel von dialogischer „Kunst am Bau“ gelten, die in der Stadt Münster als weltbekannten Referenzort für Kunst im öffentlichen Raum ihren Platz gefunden hat.

Sarah Golka

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„Kunst am Bau“ ist Bestandteil der öffentlichen Bauherrenaufgabe. Bereits im Jahr 1950 hat der Deutsche Bundestag festgelegt, dass bei allen Bundesbauten ein gewisser Anteil – meist um die 1% – der Bausumme für „Kunst am Bau“ eingesetzt werden soll. Mit der „Kunst am Bau“ soll ein kultureller Mehrwert geschaffen werden, der zur Förderung der Kultur sowie finanziellen Unterstützung der Kunst, respektive der Künstler:innen beitragen soll.

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Nancy Princenthal, Circulatory System. Tom Otterness’ Prints, in: The Print Collector's Newsletter, Vol. 26, Nr. 1 (März–April 1995), 8–11, hier 9.