Silke Wagner, münsters GESCHICHTE VON UNTEN, 2007, 51°57'37.1"N 7°38'02.0"E

Silke Wagner, münsters GESCHICHTE VON UNTEN, 2007. Installationsansicht

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Für die skulptur.projekte münster 07 kreierte Silke Wagner (geb. 1968) einen Gegenentwurf zum preußisch-militaristischen Heldengedenken der Stadt. münsters GESCHICHTE VON UNTEN zeigt den Münsteraner Paul Wulf (1921–1999) als Projektionsfläche zivilen Ungehorsams. Mit ihrer rund 3,40 Meter hohen Betonskulptur, die gleichermaßen als Statue und Litfaßsäule fungiert, lenkt die Künstlerin die Aufmerksamkeit auf einen der bedeutendsten Aktivisten der deutschen Nachkriegsgesellschaft, der noch heute als Ikone für Gewaltopfer der NS-Herrschaft gilt.1 Sein politisches Wirken ist auf eine traumatisierende Zäsur in seinem Leben zurückzufüh-ren: Kurz nachdem er mit elf Jahren in das St. Johannes-Stift für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Marsberg verlegt wurde,2 setzte das nationalsozialistische Regime 1933 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ durch. Auf dessen Grundlage deklarierte der NS-Staat nicht nur Menschen, die unter psychischen und physischen Erkrankungen litten als „lebensunwert“, sondern nahm sich überdies das Recht heraus, diese zu zwangssterilisieren, um das Vererben ihrer Gene zu verhindern. Unter der Bedingung, dass Wulf sich einer Sterilisation unterzieht, stimmte die Stiftsleitung 1937 dem Entlassungsantrag seiner Eltern zu. So kam es ein Jahr darauf zur Sterilisation des damals 17-Jährigen. Gleichzeitig war dies die Geburtsstunde eines lebenslangen Engagements.

Ab 1945 politisierte sich Wulf in Münster zusehends, trat linken Kreisen bei, bekannte sich zu kommunistischen und anarchistischen Positionen und beteiligte sich an Demonstrationen, Hausbesetzungen sowie an Aktionen zur Aufarbeitung der NS-Zeit und der Aufdeckung von Täter-Biografien.3 Eine Entschädigung für das ihm widerfah-rene Leid konnte er erst 1979 erfolgreich gerichtlich durchsetzen.

Mit münsters GESCHICHTE VON UNTEN ist es Silke Wagner gelungen, zusammen mit dem Freundeskreis Paul Wulf und dem Archiv des Umweltzentrums (UWZ) ein Symbol für sozialrevolutionäre Bewegungen, Selbstermächtigung, antifaschistischen Widerstand und Aufklärungsarbeit zu schaffen.4 Mit einem angedeuteten langen Mantel über dem hageren Körper und der dicken Hornbrille greift die Figur zwei cha-rakteristische Erscheinungsmerkmale von Wulf auf, während der überproportional große Kopf seine markanten Gesichtszüge betont. Auf dem Mantel sind wechselnde Dokumente aus dem UWZ-Archiv zu sehen, das im Zuge der Realisierung des Werks digitalisiert und damit einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden konnte. Die Dokumente, mit denen die Figur regelmäßig plakatiert wird, widmen sich der Lebensgeschichte Paul Wulfs, der Geschichte des Häuserkampfs in Müns-ter, der politischen Zensur und Kriminalisierung von Texten von den 1970er Jahren bis in die Gegenwart sowie der Münsteraner Anti-Atomkraft-Bewegung.5

Mit ihrer Arbeit beabsichtigt Wagner, jene Menschen zu repräsentieren, die sich mit ihrem Aktivismus und ihrem gesellschaftspolitischen Wirken abseits einer bürgerlichen, von wirtschaftlichen Interessen bestimmten Norm bewegen. Die Dokumentati-on von Wulfs Anstrengungen soll Personen eine Stimme geben, die durch ihre Form des Widerstands ebenfalls Repressalien ausgesetzt sind. münsters GESCHICHTE VON UNTEN verfolgt das Ziel, diesem andauernden Ungleichgewicht in der Informa-tionspolitik entgegenzuwirken.6

Bereits kurz nach Ende der skulptur.projekte 07 wurde über den Verbleib des Werks, dessen ursprünglicher Standort vor dem Stadthaus 1 war, kontrovers debattiert. Im November 2007 positionierte sich die Mehrheit aus CDU und FDP im Kulturaus-schuss gegen ein Bleiberecht des Denkmals. Die Weigerung der Politiker:innen, dem Gedenken an Wulf öffentlichen Raum zu gewähren, sorgte überregional für Kritik und Unverständnis. Mithilfe von Spendensammlungen und eines Bürgerantrags konnte die Skulptur jedoch kurz darauf durch den Freundeskreis Paul Wulf erworben und der Stadt Münster als Schenkung überreicht werden. Allen Widerständen zum Trotz ist „Paul“ geblieben und hat 2010 sein dauerhaftes Zuhause auf dem Servatiiplatz an Münsters Promenade gefunden.

Entlang dieser befinden sich mehrere, zunehmend kritisch diskutierte Kriegerdenkmäler; an seinem neuen Standort unterbricht Wagners Werk somit eine Form der Erinnerungskultur, die reaktionäre Inhalte und Symboliken in die Gegenwart trans-portiert. Damit beweist die Skulptur nicht nur ihre andauernde Relevanz, sondern verkörpert auch heute noch das, was seinerzeit auch Paul Wulfs erklärtes Ziel war: den Bruch mit bekannten Narrativen und ein kollektives Umdenken.

Alexander Duschek

1

Vgl. Christoph Spieker, „Paul Wulf und die späte Resonanz eines Außenseiters“. In: Mathias Frese/Marcus Weidner (Hg.): Verhandelte Erinnerungen. Der Umgang mit Ehrungen, Denkmälern und Gedenkorten nach 1945, Paderborn 2018, 189.

2

Vgl. Paul Wulf, „Zwangssterilisiert. Biographische Notizen“. In: ebd., 12.

3

Vgl. Umweltzentrum-Archiv e.V. (UWZ-Archiv).

4

Vgl. Bernd Drücke, „Paul bleibt. Punkt.“. In: Freundeskreis Paul Wulf (Hg.), „Ich lehre euch Gedächtnis“, 170.

5

Vgl. Silke Wagner, „münsters GESCHICHTE VON UNTEN. Vor dem Stadthaus 1, Klemensstraße 10“. In: Brigitte Franzen, Kaspar König, Carina Plath (Hg.): skulpturprojekte münster 07. Köln 2007, 249.

6

Vgl. ebd. 251f.

Dieser Beitrag ist für das Skulptur Projekte Archiv entstanden und wurde der Kunsthalle Münster zur Verfügung gestellt. Auf der Website des Skulptur Projekte Archiv sind alle Werke zu finden, die zur Öffentlichen Sammlung der Skulptur Projekte gehören.

Begleitprogramm:

2.5.2023, 18:30 Uhr,

Gedenken an Paul Wulf und Wiederaufstellung der Skulptur münsters GESCHICHTE VON UNTEN von Silke Wagner

, Servatiiplatz