Otto Freundlich, Ascension, 1929/1960, 51°57'37.5"N 7°37'57.1"E

Otto Freundlich, Ascension

Credit

Die abstrakte Bronzeplastik Ascension (auch bekannt als Der Aufstieg) ist ein Hauptwerk im skulpturalen Schaffen des Bildhauers und Malers Otto Freundlich (1878–1943). Sie zählt ohne Zweifel zu den wichtigsten Kunstwerken im Besitz der Stadt Münster. Das Werk wurde im Jahr 1981 erworben und befindet sich seit Mitte der 90er Jahre an seinem heutigen Standort unweit der Clemenskirche.1 „Der Ankauf dieser Plastik bedeutet, daß im Angebot der Stadt an ihre Bürger eine kunstgeschichtliche Lücke geschlossen wird“, so der Wortlaut einer Pressemitteilung von 1982. Denn eine künstlerische Arbeit aus der Zeit der klassischen Moderne hatte es unter den frei zugänglichen Werken im Stadtgebiet bis dahin nicht gegeben.2

Der im Pommerschen Stolp (heute Słupsk) geborene Otto Freundlich zählt zu den wichtigsten Künstlerpersönlichkeiten der Vorkriegsmoderne und genoss als „Wegbereiter der Abstraktion“ bereits in den 1920er Jahren höchste Anerkennung. Wegen seiner zahlreichen Kontakte in deutschen und französischen Künstler:innenkreisen würde man ihn heute als hervorragend „vernetzt“ beschreiben: Er stand in enger Verbindung zum Bauhaus in Weimar, zur Dada-Bewegung und zu der Gruppe der Kölner Progressiven. Darüber hinaus zählte er zu den Gründungsmitgliedern der Berliner Novembergruppe und war Teil der bedeutenden Pariser Künstler:innengruppen Cercle et Carré und Abstraction-Création. Als Korrespondent verschiedener Avantgarde-Zeitschriften veröffentliche er kunstphilosophische Schriften, die seine besondere Rolle als Vordenker einer sozialen Kunst verdeutlichen.3

Das Schicksal Otto Freundlichs spiegelt jedoch auch die Brüche und Abgründe der deutschen Geschichte: Als Kommunist und Jude wurde er nach der Machtübernahme Adolf Hitlers von den Nationalsozialisten geächtet und verfolgt. Seine Werke wurden aus deutschen Museen und Sammlungen entfernt und in der propagandistischen Wanderausstellung Entartete Kunst (1937) zur Schau gestellt.4 Im Februar 1943 wurde Freundlich in den französischen Pyrenäen von Handlangern der deutschen Gestapo in Haft genommen und nach Polen deportiert. Kurz darauf wurde er im Vernichtungslager Sobibor oder in Lublin-Majdanek ermordet.

Ascension entstand 1929 in Paris und wurde von Otto Freundlich ursprünglich als Gipsmodell (im Maßstab 1:1) modelliert.5 Der heutige Bronzeguss, der für den Künstler selbst nicht zu finanzieren war, wurde erst 1960 in der Pariser Gießerei Susse realisiert. Neben dem Münsteraner Exemplar existieren noch fünf weitere Abgüsse, unter anderem im Museum Ludwig in Köln, in der Pinakothek der Moderne in München sowie im Museum der Stadt Pontoise (Frankreich). Einer dieser sechs Abgüsse war 1964 bei der documenta III in Kassel zu sehen, wodurch Otto Freundlich nach jahrzehntelanger Vergessenheit erstmals wieder einem größeren Publikum bekannt wurde.

Die abstrakte Plastik Ascension, die auf den ersten Blick an eine menschliche Gestalt, eine überdimensionale Büste oder eine Pflanzenknospe erinnert, veranschaulicht eine nach oben strebende Bewegung, die alle Einzelelemente zu einem kollektiven Miteinander verbindet. Wie von einer inneren Kraft angetrieben, scheinen sich die organisch geformten Elemente im unteren Bereich zu vereinen und übereinander zu schieben. Die naturhaft-erdverbundenen Strukturen des Sockelbereichs wandeln sich über konstruktive Quader im Mittelteil zu einer Ballung rotierender Massen, deren scheinbare Bewegung eine Überwindung der Schwere andeutet.6 Dieser Anschein innerer Belebtheit wird hierbei auch durch das Spiel von Licht und Schatten und die detailreich modellierte Oberflächenstruktur bewirkt, die Freundlich bei der gestaltenden Arbeit am Gipsmodell durch das Formen des weichen Materials mit den Händen und das Aufbringen zahlreicher flachgedrückter Gipsklümpchen schuf.

Geradezu beispielhaft veranschaulicht Ascension Freundlichs idealistisches und gesellschaftsbezogenes Kunstverständnis. Er betrachtete die Abstraktion als wirksames Ausdrucksmittel, um die verborgenen, Mensch und Kosmos gleichermaßen bestimmenden Kräfte anschaulich zu machen. Seine Vision war die Aufhebung der gesellschaftlichen Schranken und die Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens nach freiheitlich-humanistischen Idealen: Die Kunst als Aufruf zur Utopie.7

Julius Lehmann

1

Angekauft wurde die Plastik 1981 für 360.000 DM mit Mitteln aus dem 1977 eingerichteten „Fonds zur Anschaffung von Kunstwerken“ (bestehend aus Spenden der Stadtsparkasse) und mithilfe einer zweckgebundenen Spende der Firma Horten. Die städtische Kunstkommission war zuvor durch die Ausstellung „Skulptur im 20. Jahrhundert“ (10. Mai – 14 September 1980) im Wenkenpark Riehen/Basel auf das Werk aufmerksam geworden, das von einer Galerie zum Verkauf angeboten worden war. Siehe: Informationsblatt „Otto Freundlich. Dokumentation im Westfälischen Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte / Dokumentation zum Erwerb der Plastik „Der Aufstieg“ durch die Stadt Münster“, 1982.

2

Ebd.

3

Siehe: Uli Bohnen (Hg.): Otto Freundlich. Schriften. Ein Wegbereiter der gegenstandslosen Kunst, Köln 1982.

4

Seine heute verlorene Arbeit „Großer Kopf“ (1912) wurde von den Machern der Ausstellung in verfemender Weise auf der Titelseite der Ausstellungsbroschüre abgebildet. Siehe: Julia Freundlich (Hg.): Otto Freundlich. Kosmischer Kommunismus [Ausst.-Kat. Museum Ludwig, Köln], München 2017.

5

Die Gipsfassung von Ascension wurde schon 1929 in der Ausstellung „Abstrakte und surrealistische Malerei und Plastik“ im Kunsthaus Zürich präsentiert und erlangte Bekanntheit durch die Abbildung im dazu erschienenen Ausstellungskatalog.

6

Vgl. Carla Schulz-Hoffmann (Hg.): Pinakothek der Moderne. Malerei, Skulptur, neue Medien, Köln: Dumont 2002, S. 119.

7

Siehe: Joachim Heusinger von Waldegg: Otto Freundlich: Ascension. Aufruf zur Utopie, Frankfurt am Main: Fischer, 1987.