James Reineking, Synclasticon, 1977, 51°59'46.8"N7°35'48.1"E

James Reineking, Synclasticon, 1977. Installationsansicht

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Der US-amerikanische Künstler James Reineking (1937–2018) schuf seine Skulptur Synclasticon als Teil der Skulptur Ausstellung in Münster 1977, wo sie auf dem Vorplatz des LWL-Museum für Kunst und Kultur aufgestellt wurde. Sie gehörte zum historischen Überblick der dreigeteilten Ausstellung, der die Geschichte und Entwicklung der modernen Skulptur nachzeichnete. Zugleich verwies die Positionierung der Arbeit auf die beiden Stränge der umfassenden Schau, die im öffentlichen Raum stattfanden und Zeitgenossen Reinekings wie Carl Andre, Richard Serra und Donald Judd zeigten. Sie alle gehören einer Generation westlicher Bildhauer:innen an, die in ihren Arbeiten die pure Gegenstandslosigkeit verfolgt und mit der Referenz zur Realität jenseits des Werkes gebrochen hat. Mit dem Fokus auf Material, Form und Herstellungsprozess als einzig sinnstiftende Inhalte verband der Minimalismus der 1960er und -70er Jahre die Suche nach der Möglichkeit unverfälschter Autonomie des Kunstwerkes.

Reinekings Synclasticon ist wie viele seiner Skulpturen aus einer einzigen Cortenstahlplatte geformt. Typisch für die minimalistische Skulptur ist das Verarbeiten von Baumaterialien aus industrieller Herstellung, um bereits damit jedem Verdacht auf Erhabenheit der Kunst zuvorzukommen und das Potenzial einer seriellen Produktion mitzudenken. Grundlage seiner Konstruktionsanweisung1 für die Arbeit für Münster, die bei der Hamburger Werft Blohm+Voss hergestellt wurde, ist eine 2 x 7 Meter große Platte. Aus ihr werden zwei gleichgroße aber nicht gleichförmige Hälften von 7 Meter Länge geschnitten, die als Positiv und Negativ ineinanderpassen. Während die eine Hälfte aus einem längeren, konkaven Kreisausschnitt besteht, an das ein kürzerer, konvexer anschließt, ist es bei der anderen genau umgekehrt, wobei beide Hälften in einem Längenverhältnis von 7:5 unterteilt sind. Beide Elemente werden jeweils an dem Punkt, an dem das konvexe auf das konkave Kreissegment trifft, so weit gebogen, dass sich ein innerer Winkel von 60° ergibt. Anschließend werden die beiden konvexen Schenkel gewölbt; der längere nach außen und der kürzere nach innen. Die gebogenen Elemente können nun frei stehen und werden einander gegenüber so positioniert, dass die beiden konkaven Teile auf einer Linie liegen. Aus der Vogelperspektive sieht die Skulptur nun aus wie eine Gerade, die eine Kurve schneidet. Dabei entspricht der Umfang der Kurve exakt jenem, der am Beginn der Berechnung der Kreisausschnitte auf der Platte steht.

Die komplexe Geometrie, die Reinekings Arbeit zugrunde liegt, lässt sich beim Betrachten erahnen, wenn man gedanklich versucht, die Skulptur wieder in ihren Ursprungszustand zurückzuversetzen. Solch eine Anregung zum synthetischen Denken ist typisch für Reinekings Skulpturen, die für die mentale Interaktion mit dem Publikum ausgelegt sind. Lässt man sich auf das Rätsel ein, steckt man als Betrachtende:r direkt tief im Herstellungsprozess der Arbeit, der wie eine Meditation über Zusammensetzung und Veränderbarkeit von Formen anmutet. Selbes verfolgt Reineking auch beim Titel des Werkes: Synclasticon ist ein Kofferwort aus den Begriffen „synclastic“ und „icon“. Ersteres beschreibt in der Geometrie einen Gegenstand, dessen Oberfläche an allen Punkten und in jede Richtung zur selben Seite hin gekrümmt ist, wie es beispielsweise bei einer Kuppel der Fall ist. Icon wiederum beschreibt ein Zeichen, das eine wahrnehmbare Ähnlichkeit mit dem bezeichneten Gegenstand hat, ein Abbild der Muttergottes oder jede beliebige Fotografie. Als Ganzes beschreibt der Titel im Wesentlichen, was die Arbeit ist – ein Abbild einer synklastischen Funktionsberechnung – und formt sich als Wort wie die Skulptur selbst zum Puzzle. Auch hier zeigt sich der radikale Versuch, das Kunstwerk als autonom zu behaupten, es nicht über sich selbst hinaus weisen zu lassen, sondern seine Freiheit in der Gegenstandslosigkeit und Konzentration auf das Essentielle zu finden: Material, Form, Herstellung.

Nach ihrem Erwerb durch die Stadt Münster kurz nach Ende der Skulptur Ausstellung wurde die Skulptur zunächst vor der Grundschule Kinderhaus-West aufgestellt. Anfang der 1990er Jahre musste sie aufgrund eines Erweiterungsbaus an die Westhoffstraße umziehen, wo sie abermals aus stadtplanerischen Gründen weichen musste. 2013 wurde ihr heutiger Standort auf einem Grünstreifen am Langebusch unweit des Zentrums von Münster-Kinderhaus beschlossen.

Tobias Peper

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Eine Konstruktionszeichnung inklusive Schnittanleitung wurden im Katalog zur Ausstellung veröffentlicht. Vgl. Bußmann, Klaus und König, Kasper (Hg.): Skulptur Ausstellung in Münster 1977. Katalog I und II. Münster, 1977.