Adrian Williams, The Curve
The curve is a perspective of the horizon, the end of sight. What we can’t see beyond becomes a line: an acoustic movement swells as we traverse the line, turning into darkness reliably, but nevertheless spectacularly. (Adrian Williams, 2019)
Gebunden an den Himmelslauf der Sonne handelt es sich beim Sonnenuntergang um ein Ereignis, das einer bestimmten Konstellation von Ort und Zeit bedarf. Genau für diese entwickelte Adrian Williams (geb. 1979 in Portland, Oregon) ihre Performance The Curve. Am 21. Juni 2019, dem längsten Tag des Jahres, wurde Münsters Preußenstadion um 21.53 Uhr, für den Moment des Sonnenuntergangs, zur Spielstätte einer akustischen Intervention, die die Künstlerin gemeinsam mit sechs Musikern realisierte.1 Über die Stadionlautsprecher erklangen Posaune, Bassposaune, Tuba und Schlagwerk, zunächst jedes Instrument für sich, dissonant. Mit dem Fortschreiten der Performance verständigten sich die Musiker auf einen Ton und die Klänge aus den Lautsprechern wurden zunehmend harmonischer. Licht und Klang traten in ein Wechselspiel miteinander, wurden eins mit ihrer Umgebung. Bis zu jenem Moment, an dem die Sonne am Horizont verschwindet und langsam alles Licht nach sich zieht. In ihrer Performance bricht die Künstlerin mit einer gängigen Aufführungspraxis, eignet sich stattdessen das Ereignis des Sonnenuntergangs an und macht diesen zum Protagonisten.
Während Williams Performance vollzieht sich für den Moment des Sonnenuntergangs die Umwandlung eines geographischen Raums – oder vielmehr einer Konstellation von Zeit und Raum – in ein Kunstwerk und das, ohne in die Landschaft einzugreifen, sondern basierend auf einem konzeptuellen Rahmen als ephemere Intervention. Dem Naturschauspiel wird durch den gegebenen Rahmen ein besonderes Bewusstsein zuteil, offen für eigene Gedanken und Empfindungen. Die Linie zwischen Himmel und Erde wird zur Projektionsfläche für Tagträume. Die Bedingungen, die durch die Künstlerin gesetzt wurden und sich jederzeit wiederherstellen lassen, ermöglichen es, das Werk von dem originalen öffentlichen Aufführungsort in Münsters Preußenstadion zu lösen. Die Aufnahmen der Klänge aus dem Stadion können immer wieder angehört und die Performance kann damit an jedem beliebigen Ort wiederaufgeführt werden. Die Performance ist lediglich an eine Raum-Zeit-Konstellation gebunden. Und es bedarf allein der Handlungsanweisung, die Tonaufnahme, wo auch immer auf der Welt man sich befindet, im Moment des Sonnenuntergangs anzuhören. Sie dient als Werkzeug, als Rahmen oder als Bühne, die der subjektiven Wahrnehmung Raum gibt und die Realität eines Moments verändert. In dem Moment, in dem die Sonne den Horizont berührt, die Musik ertönt und man in den Himmel blickt, kommt es zu einer Wiederaufführung. Es geht um das Erleben eines Moments, um Raum für Beobachtungen, einen Moment der Konzentration, der Entschleunigung. Man bekommt Gelegenheit, sich in Zeit und Raum zu verorten, eingebettet in den fortlaufenden Wechsel von Tag und Nacht: Dem Sonnenuntergang folgt die Abenddämmerung, auf diese die Nacht, die Morgendämmerung, der Sonnenaufgang und der Tag. Die Sonne wandert den Himmel entlang, steigt hinauf und hinab, bevor schließlich der Sonnenuntergang den Tag erneut beendet. Durch das Abspielen der Aufnahme kommt es zu einer Übertragung des Klangs, der sich mit einer anderen Situation verbindet und dadurch zu einer neuen Version der Performance wird. Es ist ein ephemeres und doch wiederkehrendes Spiel mit der Landschaft, mit unserer Wahrnehmung, unserem Bewusstsein.
Merle Radtke
An der Posaune Alfred Holtmann, Matthias Imkamp, Jochen Schüle, an der Bassposaune Thomas Reifenrath, an der Tuba Daniel Muresan und am Schlagwerk Gereon Voss.