11.6. – 25.9.2016,

Solid Liquids – Internationale Tendenzen der Skulptur in der Gegenwartskunst

, Kunsthalle Münster

Fest, aber auch flüssig – diese Polarität ist der gemeinsame ästhetische Nenner, der alle Kunstwerke der Ausstellung miteinander verbindet. Als feste Entitäten scheinen sie um einen physischen Kern oder Mittelpunkt zu kreisen oder zu rotieren. Sie präsentieren sich als freistehende Objekte, die bewusst das Augenmerk auf das kompositorische Detail richten und manchmal sogar auf Podesten ruhen oder Vitrinen füllen. Gleichzeitig machen sie einen instabilen Eindruck, wie Flüssigkeiten, die ihre Gestalt und Form und sogar ihre Substanz fortwährend verändern. Oder sie zeigen sich wegen ihrer fragwürdigen Quasi-Verbindungen als fragile Strukturen. Sie scheinen außerdem in der Lage zu sein, von den unendlichen Ressourcen der zeitgenössischen Existenz Bilder, Materialien und sogar Alltagsgegenstände abzuschöpfen, um immer komplexere Informationsschichten aufzubauen, eine kontinuierliche Mutation zu etwas Neuem. Oder sie wirken gerade im Gegenteil wie Dinge, die gedehnt werden oder wegschmelzen und dabei ihre materielle Substanz verlieren. Die Kunstwerke thematisieren dadurch die flüchtige Qualität der entmaterialisierten Skulptur. Zur gleichen Zeit lassen sie eine neue Begeisterung für die sinnlichen Aspekte der Materialität erkennen, für ihre Form, ihre Textur, ihre Ausdrucksmöglichkeiten und die Fähigkeit, disparate Dinge zumindest eine Zeitlang zusammenzuhalten.

Die in der Ausstellung vertretenen Künstler*innen zeigen auch ein Interesse an dem Prozess der Herstellung eines Objekts, das eine Weile halten soll. Als Solid Liquids beschreiben die Skulpturen einen höchst ambivalenten Zustand, wie ihn Massimiliano Gioni vorgeschlagen hat: "Die Skulpturen von heute scheinen schon durch ihr physisches Erscheinungsbild ein nahezu schizophrenes Gespaltensein zum Ausdruck zu bringen zwischen dem Wunsch, sich in der Welt aufzulösen und dem Bedürfnis, sich stärker abzugrenzen. In ihrer Unentschlossenheit könnten die Skulpturen der Gegenwart dem paranoiden Zustand ähneln, in dem wir leben: Wir sind geteilter Meinung, ob wir mit einem neuen Krieg neue Territorien erobern oder uns stattdessen lieber zurückziehen und unser eigenes Gebiet verteidigen sollen." (In: Unmonumental – The Object in the 21st Century, New Museum NY 2007, 65)

In vielerlei Hinsicht haben die Skulpturen Qualitäten, die Robert Rauschenbergs Combine Paintings und ihrem Versammeln von Materialien und Gegenständen ähneln oder denen von Minimal Objects mit ihrer schroffen Materialität und ihrem phänomenologisch ausgerichteten künstlerischen Interesse. Es gibt allerdings wichtige grundsätzliche Unterschiede zwischen der Art, wie diese Vorgänger aus den 1960er Jahren ihre Werke erlebt wissen wollten und den Künstler*innen, deren Arbeiten in der Ausstellung zu sehen sind. Die ältere Generation erteilte jedem Streben, dem persönlichen Empfinden Ausdruck zu verleihen, eine Absage. Die Visualisierung einer auf Emotionen basierten Subjektivität erwies sich faktisch als Tabu. Sogar noch wichtiger ist, dass sie jeden Versuch vermieden, eine symbolische oder narrative Bedeutung zu definieren. Stattdessen wurde dem Betrachter die Rolle eines Handelnden zugewiesen, der in einem Prozess durch seine eigene Interaktion mit dem Werk Bedeutung erzeugt. Die Skulptur verlor auf diesem Weg ihre physische Präsenz und entwickelte sich in die Richtung eines „expanded field". Sie wurde mehr und mehr zu einem Erlebnis, in dem das Werk des Künstlers mit seiner Umwelt verschmilzt – die Dynamik des Alltagslebens wurde zum integralen Bestandteil der Bedeutung der Kunst.

Jetzt scheint die Beziehung zwischen Künstler*innen und Betrachter*innen eine neue Wendung genommen zu haben. Die Skulpturen in der Ausstellung wirken oft wie ein privates Nachsinnen, wie sehr persönliche Versuche, die individuelle Identität weiter herauszuarbeiten und gleichzeitig die Möglichkeit einer gemeinschaftlichen, konsensuellen Entwicklung in Erwägung zu ziehen in dem Bewusstsein, dass ausnahmslos jeder in einer zeitgenössischen Welt gefangen ist, in der der permanente Wandel alle Überreste des Einzigartigen und alle unverbrüchlichen Prinzipien übertüncht. Die facettenreichen Skulpturen bedienen sich einer Vielzahl von kulturellen und historischen Referenzen. Sie vereinen eine Vielzahl der Einflüsse und Appropriationen zu eigentümlichen Narrativen, mitunter beinahe zu persönlichen Mythologien. Alle diese Ideen und Materialien scheinen miteinander zu einem selbstklebenden Gewebe mit ineinander greifenden Bauelementen und kulturellen Codes verwoben zu sein, das aber an den Rändern schon deutliche Auflösungserscheinungen zeigt. In der Ausstellung tauchen fremdartige und sogar feindselig aussehende dreidimensionale Figuren und Masken mit eindeutig menschlichen Zügen auf, die als Portraits eines Alter Ego verstanden werden könnten, als überspitzte Selbstdarstellung der Künstlerin und des Künstlers, die förmlich darum bettelt, als solche erkannt zu werden, und doch die Frage aufwirft, ob es überhaupt möglich ist, einen Weg zur Darstellung einer klar definierten persönlichen Identität zu finden. Bei manchen Skulpturen sind Materialien in Vitrinen oder in glasglockenartige Konstruktionen eingeschlossen, als ob die Substanzen im Inneren volatile Qualitäten besäßen, entweichen und sich verflüchtigen könnten. Die Skulpturen wirken wie Inkubatoren für die Aufzucht von fantastischen Organismen oder wie Apparate für obskure wissenschaftliche Forschungen, wie der Versuch, etwas auf erstaunliche und sogar mysteriöse Art Neues zu entdecken und zu erschaffen – unbekannte Welten mit ganz eigenen Regeln. Andere Werke sind in ihrem Charakter wesentlich alltäglicher. Bei diesen Skulpturen deuten bestimmte formale Strukturen die Möglichkeit einer praktischen Verwendung an, aber durch ihre ästhetische Opulenz unterwirft sich die Funktion der Virtuosität der Form, mit skulpturalen Objekten voller Ironie und Humor als Resultat.

Die westliche Welt wird in der Gegenwart weitgehend durch globale Netzwerke definiert. Das Angebot an Informationen und der Zugang zu Ressourcen sind unbegrenzt, die Produktion von Bildern ein unaufhörliches Bombardement in einer Umwelt, in der alles kontinuierlich in Bewegung zu sein scheint. Mit jedem geposteten Selfie wird der Unterschied zwischen öffentlichem Raum und Privatsphäre weiter verwischt. Nach einer definierbaren Orientierung zu suchen erscheint äußerst unproduktiv, wenn nicht sogar vollkommen obsolet. Immer auf dem Sprung zu sein ist das neue Lebenselixier. Die Haltung der Werke in der Ausstellung wirkt dem jedoch in gewisser Weise entgegen. Nachdem sie sich durch viele Schichten von Bedeutung und Materialien gearbeitet haben auf der Suche nach Bedeutung im Sperrfeuer endloser Informationen und verfügbarer Dinge, scheinen die Künstler*innen mit ihren Skulpturen eine bewusste Wahl getroffen und ihre Materialien in eine feste Form gebracht zu haben, obwohl sie jederzeit anerkennen, dass der Umsturz unmittelbar bevorsteht.

Kurator*innen: Dr. Gail B. Kirkpatrick, Marcus Lütkemeyer

Die Ausstellung wird gefördert durch:

Das Programm der Kunsthalle Münster wird unterstützt vom Freundeskreis der Kunsthalle Münster.