27.6. – 27.9.2009,

Site of Silence: Christian Geißler, Suchan Kinoshita, Germaine Kruip, Kris Martin, Yehudit Sasportas, Andreas K. Schulze, Stephan US

, AZKM

Oft scheint es so, als würde sich das tägliche Leben in einer unentrinnbaren Wolke von Geräuschen abspielen, als würde der städtische Lärm nie aufhören: Verkehr, Flugzeuge, Presslufthämmer, das Gemurmel unzähliger Stimmen, das unvermeidliche Klingeln von Telefonen. Diese allgegenwärtige akustische Belästigung strapaziert die Nerven, und man scheint ihr nicht entkommen zu können. Der geplagten Seele bleibt als letzte Zuflucht nur die panische Suche nach Einsamkeit, nach Ruhe und Frieden. Die Sehnsucht nach einem Ort, an dem unsere überreizten Sinne sich für einen Augenblick erholen und regenerieren können, wird überwältigend groß… die Suche nach einem Ort, an dem Stille herrscht, scheint der letzte Ausweg zu sein. Was aber bedeutet es, in einer Situation zu sein, die durch Stille bestimmt wird? Im Wörterbuch wird Stille als Ruhe oder als Schweigen beschrieben. Das Wort still wiederum wird durch eine Reihe von Negationen definiert: keine Stimmen, kein Sprechen, keine Geräusche. Stille hat aber auch etwas mit Dunkelheit und Vergessen zu tun – Orte, an denen nichts oder fast nicht ist. John Cage, der Urvater der Ästhetik der Stille, war sich dieser Tatsache überaus bewusst. In seinem oft zitierten Buch Silence führt er aus: „Ich bin hier … es gibt nichts zu sagen … diejenigen, die irgendwo hinwollen … sollen gehen, wann immer sie möchten … Was wir fordern, ist Stille … aber was die Stille erfordert … ist … dass ich weiterrede …" Die Ausstellung Site of Silence setzt unterschiedliche künstlerische Positionen miteinander in Beziehung, die es dem Betrachter/der Betrachterin erlauben, sich der Erfahrung der Stille mit all ihren Widersprüchen hinzugeben. Entstanden ist eine Ausstellung, die die empirische Erfahrung des Lautvollen und Leisen überschreitet und den „Standort der Stille“ als Ereignis in der Zeit und im Raum, als ganzheitliche Erfahrung begreifbar macht.

Christian Geißlers (geb. 1953 in Münster, lebt in Münster) Installation besteht aus Regentropfen, die von einem Balkon im fünften Stock der AZKM herabfallen. When it rains …, lautet der Titel der stillen Soundinstallation. Nur wenn die Welt still ist, wird das scheinbar Lautlose hörbar. Doch auf dem Werkstattbalkon der Ausstellungshalle ist es selten still. Auf das Herabtropfen des künstlichen Regens muss man schon genau hören, um es wahrzunehmen. Das bewusste Hinhören lenkt die Aufmerksamkeit auf den schwebend-wehenden Tropfenvorhang. Jeder Windzug lenkt die Tropfenreihen ab und erzeugt den Eindruck eines Hauchs von Sommerregen. Ein Naturschauspiel in dieser Präzision wird es wohl nie geben. Aber darum geht es auch nicht. Christian Geißler schafft einen Ort, an dem man zwischen den Regentropfen auf die Stille warten kann. When it rains … spielt mit den Momenten der Erwartung und Erfüllung – als Moment der Erfüllung von Erwartung. Auf der Zeitschiene schafft sie einen Rhythmus, der beruhigt und den gesamten Speicher in das Ausstellungskonzept mit einbezieht – nicht ohne die Betrachter*innen wiederum als physisches Wesen zu fordern.

Suchan Kinoshita (geb. 1960 in Tokio, lebt in Maastricht und Münster) setzt sich in ihrer Kunst immer wieder mit der Materialität des Klangs auseinander und mit der Frage, was Klang mit Zuhören zu tun hat und Hören mit dem Unhörbaren. Die Arbeit Chinese Whispers (Stille Post), die sie für die skulptur projekte münster 07 konzipiert hat, ist eines von vielen ihrer Werke, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Für Site of Silence wurde Kinoshitas Audioinstallation passant (2007) ausgewählt, die einen Extremzustand des Hörens erzeugt. Alle 30 Minuten wird eine Aufnahme einer New Yorker U-Bahn der Expresslinie abgespielt. Ein überwältigender, ohrenbetäubender Lärm füllt den Raum, der jede andere sinnliche Wahrnehmung auslöscht. Wenn das Geräusch des Zuges verstummt, entsteht ein Gefühl absoluter Ruhe. Stille ist eine Situation, die durch Geräusch und die Abwesenheit von Geräusch erzeugt wird.

Das Spiel von hell und dunkel, Schatten und physischer Form – „Substanz heraufbeschwören im trügerischen Schein der Realität" – das sind die Themen von Germaine Kruips (geb. 1970 in Castricum, lebt in Amsterdam) ebenso fragiler wie eindringlicher skulpturaler Installation Counter Shadow (2008). In einem aus drei Wänden gebildeten, U-förmigen Raum hängt frei ein Objekt aus vier geometrischen, aus Aluminium gefertigten Formen, das von einem hellen Tageslicht-Spot angestrahlt wird. Der mehrteilige Gegenstand wirkt wie in einem Moment des Sich-Auflösens: die vier Elemente schweben beziehungslos nebeneinander. Wenn jedoch das Licht auf die Oberflächen des Metalls trifft, wirft es einen Schatten, der eine klare benennbare Form – ein Quadrat – annimmt. So wirkt die Schattenbildung fast präsenter als das konkrete Objekt. Der physische Gegenstand und sein projizierter Schatten wetteifern um die Aufmerksamkeit der Betrachter*innen. Ein Spiel von Formlosigkeit und Form, von Objektivität und Immaterialität wird in Gang gesetzt. Die Betrachter*innen werden in das prekäre Beziehungsspiel einbezogen und erleben, wie im Wechselspiel von Schein und Wirklichkeit ein fragiles Raumereignis entsteht, das ein Bild von höchster Fragilität und Schärfe entstehen lässt.

100 years, (2004) von Kris Martin (geb. 1972 in Kortrijk, lebt in Gent) scheint auf den ersten Blick eine perfekte Kugel zu sein. Das minimalistische Objekt schimmert bronzefarben und hat für sich genommen schon das Potenzial, die Betrachter*innen in einen meditativen Zustand zu versetzen. Ihre Präsenz vermittelt ein Gefühl vollkommener Ruhe. Doch der Schein trügt: bei dem Objekt von Kris Martin handelt es sich um eine „Bombe", die sich im Jahr 2104 als Kunstwerk auflöst. Kris Martin erzeugt damit eine reflexive Ambivalenz: aus dem Gefühl der Ruhe wird nervöse Unruhe. Die Erfahrung der Stille erinnert an die Ruhe vor dem Sturm. Martin erzeugt damit eine unkalkulierbare Spannung in der Zeit, die das menschliche Vorstellungsvermögen auf der quantitativen Ebene antizipiert und damit das ästhetische Gefühl des Erhabenen berührt. Die zwölf Fotografien der Serie Spatium (2009) regen Assoziationen an topografische Luftaufnahmen karger Landschaften, Wüstenlandschaften mit Kratern, verödeter Flussläufe oder trockner Sandfelder frei. Um die Bedeutung und existenzielle Spannung dieser Arbeit zu verstehen, benötigen die Betrachter*innen eine Zusatzinformation, die er sich nicht unmittelbar aus der sinnlichen Anschauung erschließen kann. Denn bei der scheinbar geologischen Fotoserie handelt es sich nicht um eine landschaftliche, sondern um physiologische Topografie: Kris Martin fotografierte die Innenseite eines Mönchschädels aus dem 13. Jahrhundert in extremer Nahaufnahme und Vergrößerung und verdichtet damit die Begriffe „Landschaft", „Meditation" und „Stille" zu einer undurchdringlichen und komplexen Lebensmetapher. Die minimalistisch-geometrische Skulptur Bells (2008), zwei aus Bronze gegossene, zusammengeschweißte Glocken, gleicht einem siamesischen Zwillingspaar, das sich in seiner Grundfunktion blockiert. Die verbundenen Glockenkörper werden zu einem Symbol der verborgenen Stille, denn niemand kann wissen, ob und welche Klangkörper Kris Martin diesem Objekt belassen hat. Die vierte Arbeit von Kris Martin trägt den Titel Symphonie Nº 0 (2008). In ihrem Innenraum enthält die unscheinbare, auf dem Boden stehende Box eine alte Sirene, die, mit einer Kurbel in Gang gesetzt, möglicherweise ein historisch anmutendes Geheul ertönen lassen kann. Lärm und Stille – wurden historisch immer wieder unterschiedlich aufgefasst und unterliegen dem Geist der Zeit.

Die Video-Installation The Clearing of the Unseen (2009) von Yehudit Sasportas (geb. 1969 in Ashdod, lebt in Berlin) zeigt in hartem Schwarzweiß handgezeichnete Bilder einer Waldlandschaft, die auf sechs Leinwände projiziert werden. Die sechsteilige Projektion erschafft einen Raum, der die ganze physische Aufmerksamkeit einfordert und übersteigt. Die intensive, unberührte Schönheit ist nie in ihrer Gesamtheit zu begreifen und gewinnt dadurch eine unheimliche, nahezu apokalyptische Atmosphäre. Diese Dramaturgie wird durch die technische Ausführung unterstützt: Aus tiefschwarzen und blendend weißen Feldern entwickeln sich scheinbar illustrativ Formen von Büschen und Bäumen, Sümpfen, Flüssen und Seen mit bis ins Detail ausgearbeiteten Konturen; die lebenden, mit Nadeln und Blättern, die toten, kahlen, ohne Laub. Die unausgearbeiteten schwarzen und weißen Flächen wirken dagegen wie Leerstellen, wie Momente des Nichts – wie eine absolute sinnliche Stille, aus der sich das Leben in seiner Unbändigkeit entfaltet und sich die harten Umrisse der Realität herauskristallisieren. Die künstlichen Ruinen haben einerseits etwas albtraumhaftes, andererseits strahlen sie eine romantisch wirkende beruhigende Schönheit aus. Musik und Bewegung unterstreichen diese ambivalente Atmosphäre.

Serielle geometrische Formen transportieren die visuelle Information, die Andreas K. Schulze (geb. 1955 in Rheydt, lebt in Köln) in seiner reduzierten Kunst verwendet. Für Site of Silence hat sich Schulze mit dem Ausstellungsraum auseinandergesetzt und mit einer Vielzahl graublau bemalter Baumwollquadrate Buchstabenfolgen an die Längswand der AZKM geklebt, die wie ein Fries die Architektur nachvollziehen. Die minimalistischen geometrischen Formen des Kunstwerkes SHHHSHHHHSHHH (Dedicated to Miles Davis) können aber auch als Zeichen für das Geräusch gelesen werden, mit dem man Schweigen einfordert. Das Gemälde thematisiert die Wirkung der stillsten Form von Information und ist damit eine Hommage an ein Musikstück von Miles Davis aus dem Jahr 1969, die auf dem Album In a Silent Way zu finden ist: SHHH/Peaceful. Wie Josef Albers, Ad Reinhardt, Agnes Martin oder andere Künstler der geometrischen Abstraktion strebt Andreas K. Schulze nach einer Darstellung des sinnlichen Ursprungs der Bildsprache und seines geometrischen Nullpunktes.

In dem Archiv des Nichts, das Stephan US (geb. 1966 in Lohne, lebt in Münster) seit 2001 pflegt, werden wissenschaftliche, musikalische und phänomenologische Versuche, den Zustand der „Nichtigkeit“ zu definieren, dokumentiert. In der Ausstellung Site of Silence wird die Stoffsammlung des in Münster arbeitenden Künstlers zusammen mit einer neuen Installation gezeigt. In der begehbaren – besser: betretbaren – Soundinstallation united silence (2009) ergründet Stefan US die Stille und experimentiert mit der Wahrnehmung und Nicht-Wahrnehmung des gesprochenen Wortes. US hat Menschen mit einer besonderen Beziehung zur Stille gebeten, über ihre Erfahrungen zu schreiben – Menschen, die taub, blind oder sozial isoliert sind, die Folter oder andere extreme, furchtbare Formen der Isolation erlebt haben. Ihre Texte befinden sich in zehn schwarzen Kabinen, die von den Besucher*innen unbeobachtet gelesen werden. Im Inneren der Rotunde wird eine sublime, zunächst unmerkliche Klangkulisse erzeugt: Stefan US hat das gesprochene Wort im Tonstudio herausgeschnitten, nur die Atempausen bleiben. Das Geräusch des Atmens strukturiert die Stille.

Die Ausstellung wird von der Botschaft des Königreichs der Niederlande gefördert.

Das Programm der AZKM wird vom Freundeskreis der AZKM unterstützt.