2.7. – 1.10.2023,

Pedro Barateiro: Crying in Public

, Kunsthalle Münster

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Pedro Barateiro, My body, this paper, this fire, 2022, Performance, Vitrac, Frankreich

Credit

Crying in Public ist die erste Einzelausstellung des portugiesischen Künstlers Pedro Barateiro in einer deutschen Institution. In seinen Werken – darunter Skulpturen, Zeichnungen, Filme, Texte und Performances – befragt er die Mechanismen und Strukturen post-kapitalistischer Gesellschaften. Auf vielfältige Art adressiert er die mit dem Kapitalismus einhergehende Entfremdung der Gesellschaft wie auch des Individuums von sich selbst. Zu einem Zeitpunkt, an dem die Welt zunehmend aus den Fugen zu geraten scheint, von Orientierungs- und Hilflosigkeit geprägt ist, wodurch Unzufriedenheit und Distanzierung um sich greifen, befasst er sich mit der Frage, wie wir die Art und Weise ändern können, wie wir uns zueinander und zu all dem verhalten, was uns umgibt.

Für den Barateiro liegt der Ausgangspunkt der Entfremdung im Beginn der modernen Gesellschaft und der europäischen Kultur. Letztere beruht insbesondere auf der landwirtschaftlichen Beherrschung der Natur sowie einer jahrhundertelangen territorialen Ausweitung. Damit verbunden taucht exemplarisch der Wind als Element, das einerseits für Freiheit, Bewegung, Wandel steht und andererseits für Eroberung und Unterdrückung, in verschiedenen seiner Werke auf: Denn die Fähigkeit, Wind und Wasserströmungen zu manipulieren sowie Navigationsinstrumente zu entwickeln, brachte eine Gruppe von weißen Menschen dazu, sich über andere zu erheben, Genozide zu rechtfertigen, ganze Menschengruppen zu versklaven und durch bloße Anwesenheit zu verseuchen. Alles unter dem hehren Ziel, diese zu „zivilisieren“. Befreit von der Religion, trugen die Entwicklung der Wissenschaft sowie die auf den Menschen ausgerichteten Mythen (oder multiplen Fiktionen) dazu bei, die Idee des privaten subjektiven Kapitals als ultimative Form der Emanzipation des menschlichen Körpers und Geistes zu verbreiten. Ausbeutung und Unterdrückung ebenso wie Abhängigkeit nahmen ihren Lauf, führten zu einer zunehmenden Entfremdung. Die Kultur des Unternehmertums, die das kapitalistische System geprägt hat, nährt die Idee, dass das Individuum selbst dafür verantwortlich ist, seinen Weg zu gehen und dabei gegen alles und jeden zu kämpfen. Es wurde ein System des Wettbewerbs genährt, welches nur der abstrakten Kapitalproduktion zugutekommt, sich ansonsten aber durch Kälte und Gleichgültigkeit gegenüber dem Anderen auszeichnet. Der Zusammenprall des Selbst mit der Umwelt ist in diesem Szenario unvermeidlich.

Eine vormals feststehende, nicht in Frage gestellte Beziehung des Menschen zu sich und seiner Umwelt scheint verkehrt, gestört, zerstört. Vor eben diesem Hintergrund spielt Barateiro mit Mitteln der Orientierung und Desorientierung. Seine Werke dienen als Instrumente einer Selbstvergewisserung, lassen einen die eigene Position in der Welt befragen. Seine Kunst ermöglicht es, mit der eigenen Menschlichkeit in Kontakt zu bleiben, sie bietet Raum für Verletzlichkeit, Fantasie und Träume. Dazu setzt er auf Emotionen und Intimität, um einer zunehmenden Empfindungslosigkeit entgegenzuwirken. Dementsprechend erscheint auch sein Rückgriff auf die Epoche der Romantik, die als Reaktion auf die vernunftgerichtete Philosophie der Aufklärung entstand und deren Grundthemen Gefühl, Leidenschaft, Individualität und individuelles Erleben sind, fast schon wie eine logische Konsequenz. Ist doch sein künstlerisches Schaffen geprägt von einer melancholischen Sehnsucht nach einem vollkommenen Ort, an dem Gemeinsamkeit und Zuneigung unschuldig vor der Warenförmigkeit stehen. Zur Dekolonisation unserer Körper und Köpfe nutzt Barateiro die Poesie als Werkzeug. Auf sehr feine und leise Art wird hier einer Anästhesie entgegengewirkt, die Empfindungslosigkeit aufgebrochen und jenes Moment in eine Form übersetzt.

Kuratorin: Merle Radtke

Pedro Barateiro (geb. 1979 in Almada, Portugal) arbeitet in unterschiedlichen Medien wie Skulptur, Performance, Schreiben und Zeichnung. Seine Arbeit konzentriert sich auf die Dekonstruktion westlicher binärer Narrative. Er hatte Einzelausstellungen unter anderem im CRAC Alsace, dem CIAJG in Guimarães, der Kunsthalle Basel, dem Museu de Arte Contemporânea de Serralves, der Kunsthalle Lissabon, REDCAT in Los Angeles und dem Museu Coleção Berardo in Lissabon. Er nahm zudem an Gruppenausstellungen wie der 13. Sharjah Biennale, der 29. São Paulo Biennale, der 16. Biennale of Sydney und der 5. Berlin Biennale teil. Seine Performances wurden im Centre Georges Pompidou in Paris, dem IAC Lyon, der ZHdK in Zürich, dem Théâtre de la Ville, der L'école nationale supérieure des beaux-arts und der Fondation Ricard in Paris präsentiert. Regelmäßig organisiert Pedro Barateiro Veranstaltungen und Ausstellungen im Spirit Shop, einem von ihm gegründeten Kunstraum. Im Jahr 2020 gründete er zusammen mit einer Gruppe von Künstlern die AAVP, die erste Künstlervereinigung in Portugal.

Die Ausstellung wird gefördert durch:

Das Werk Love Song konnte produziert werden durch die Unterstützung von:

Das Programm der Kunsthalle Münster wird unterstützt vom Freundeskreis der Kunsthalle Münster.

Begleitprogramm:

2.7.2023, 14:00 Uhr,

Pedro Barateiro, My body, this paper, this fire

, Kunsthalle Münster

6.7.2023, 18:00 Uhr,

Führung durch die Ausstellung Pedro Barateiro: Crying in Public mit Jana Peplau

, Kunsthalle Münster

6.8.2023, 15:00 Uhr,

Führung durch die Ausstellung Pedro Barateiro: Crying in Public mit Jana Peplau

, Kunsthalle Münster

26.8.2023, 16:00 – 0:00 Uhr,

Lange Nacht der Museen 2023

, Kunsthalle Münster, Stadthausgalerie Münster

14.9.2023, 18:00 Uhr,

Führung durch die Ausstellung Pedro Barateiro: Crying in Public mit Jana Peplau

, Kunsthalle Münster

1.10.2023, 15:00 Uhr,

Kuratorinnenführung durch die Ausstellung Pedro Barateiro: Crying in Public mit Merle Radtke

, Kunsthalle Münster