12.1. – 30.3.2008,

Lügen. nirgends: Zwischen Fiktion, Dokumentation und Wirklichkeit. Corinna Schnitt, Mathilde ter Heijne, Omer Fast, Sven Johne, Milo Köpp, The Atlas Group/Walid Raad, Hans Winkler,

, AZKM

Die Ausstellung Lügen. nirgends: Zwischen Fiktion, Dokumentation und Wirklichkeit reflektiert die vielfältigen Methoden der Dokumentation. Auf den Prüfstand gerät die Rhetorik der Glaubwürdigkeit, wie sie uns in scheinbar objektiven Tatsachen- und Augenzeugenberichten, insbesondere in der Kombination von Text- und Bildmedien begegnet; im Fokus der künstlerischen Recherchen stehen politische wie historische Dokumentationen, individuelle Lebenswahrheiten und Lebenslügen. Die künstlerischen Positionen zeigen, wie differenziert und facettenreich die Methoden der Dokumentation sind und wie präzise die kritische Reflexion seitens der Kunst ist. Wie keinem anderen Medium ist es der Kunst möglich, Ambivalenzen ästhetisch greifbar zu machen und reflexive Schwebezustände zu erzeugen, die den Erkenntnisprozess immer wieder neu befruchten. Am Ende stellen sich die Besucher*innen die Frage: Was heißt es eigentlich, eine wahre Geschichte zu erzählen? Welche Rolle spielen Fakten und Fiktionen, Wahrheit und Täuschung? Welche Aufgabe hat die erzählte Geschichte innerhalb dieser rhetorischen Versuche? Corinna Schnitt (1964), Mathilde ter Heijne (1969), Omer Fast (1972), Sven Johne (1976), Milo Köpp (1962), The Atlas Group/Walid Raad (1967) und Hans Winkler (1955) warnen davor, Augenscheinliches für wahr zu halten und sensibilisieren für die emotionalen, fiktionalen und dokumentarischen Strategien, die bei der Konstruktion von Wirklichkeit zum Einsatz kommen. So schön kann das Leben gar nicht sein. Oder doch? Corinna Schnitts (geb. 1964 in Duisburg, lebt in Hamburg) Video Living a Beautiful Life zeigt ein amerikanisches Ehepaar, bei dem der Traum des Glücks scheinbar Wirklichkeit geworden ist. Alles läuft gut für sie: Der Mann ist Pilot, auch die Frau hat Karriere gemacht, beide bewohnen eine Traumvilla mit Blick auf Los Angeles. Sie haben zwei wundervolle Kinder, zwei Hunde und einen großen Freundeskreis. Der direkte Blick in die Kamera und der entspannt nüchterne Tonfall sind Ausdruck ihrer Selbstsicherheit. Die Brillanz der Monologe und die saubere Atmosphäre vermitteln eine über jeden Zweifel erhabene Objektivität dessen, was gesagt wird. Aber: Was ist das für ein Format, das die Künstlerin anstrengt? Übt das Traumpaar für ein anstehendes Klassentreffen? Irgendetwas ganz Entscheidendes scheint zu fehlen, aber was? Es liegt außerhalb der Reichweite der Kamera. Corinna Schnitt testet die Grenzen der Gutgläubigkeit des Publikums; und es zeigt sich: Gemeinsam lügt es sich am besten.

Mathilde ter Heijne (geb. 1969 ins Straßburg, lebt in Berlin) tritt gleichermaßen als multi-mediale Performance-Künstlerin, Regisseurin, Schauspielerin und seit dem Jahr 2000 als Double in Gestalt einer lebensgroßen Puppe in Erscheinung. Mit offensichtlichen und spielerischen Täuschungsstrategien, Special-Effects, Anleihen in der Popkultur und autobiografischen Irritationen, bindet ter Heijne die Aufmerksamkeit des Publikums. Die Installation Ne me quitte pas, ein Life-size-dummy, ist Teil eines Video-Performance-Projekts. Ausgangspunkt war der etwas altmodisch klingende Vorname der Künstlerin. Mathilde ter Heijnen entdeckte, dass drei tragische Heldinnen der französischen Filmgeschichte (La Femme d’à Côté, François Truffaut, 1980; Noce Blanche, Jean-Claude Briseau, 1990; Le Marie de la Coiffeuse, Patrice Leconte, 1991) nicht nur den selben Vornamen tragen, sondern dass ihnen ein ähnliches Film-Schicksal widerfahren ist: sie lieben einen älteren Mann, die unglückliche Liebe zerbricht, Mathilde nimmt sich das Leben. Um dieses tragische Schicksal zu beschwören, hat Mathilde ter Heijne die letzte tragische Schlussszene mit einem Dummy nachgestellt und ein Video gedreht. Ihre Geschichte nimmt ein vergleichsweise gutes Ende: Denn die Wiedergängerin sitzt in der AZKM und blickt auf

Omer Fast (geb. 1972 in Jerusalem, lebt in Berlin) ist ein israelischer Videokünstler und Filmregisseur. Er erhielt 2008 den Bucksbaum Award des Whitney Museum of American Art. Seine Arbeiten waren auf der documenta (13), der 54. Biennale in Venedig und auf der Whitney Biennale 2002 and 2008 zu sehen. Schindler’s List/ Spielberg’s List – Omer Fast spielt mit der Unschärfe des historischen Erinnerungsvermögens. Der Oscar-prämierte Film Schindler’s List von Steven Spielberg war in den 1990er Jahren ein – wenn auch kritisch diskutierter – Publikumserfolg. Im Zuge der Dreharbeiten für Steven Spielbergs Film Schindler’s List wurde in der Nähe von Krakau unmittelbar neben dem früheren Konzentrationslager Plaszow eine detailgetreue Film-Kulisse errichtet, die anschließend nicht demontiert wurde. Beide Lager – das historische wie das rekonstruierte – sind heute verfallen, werden touristisch vermarktet und sind das Ziel von regelmäßig stattfindenden „Schindler’s List Tours". 2003 bereiste Omer Fast Krakau. In seinem Film Spielberg’s List mischt und konfrontiert er die Bilder der authentischen Orte des Schreckens mit denen der Film-Kulisse. Er zeigt Interviews mit Personen aus der lokalen Bevölkerung, die als Statisten in Schindler’s List mitgewirkt haben. Während die Laiendarsteller von ihren Erlebnissen erzählen, beginnt man sich zu fragen, ob sie ihre Erinnerungen an die Filmaufnahmen schildern oder ob ihre Berichte nicht doch die Ereignisse widerspiegeln, die vor über 60 Jahren stattgefunden haben. Filmische Dokumentation und filmische Fiktion verschwimmen – auf bedrückende Weise bleibt die historische Wahrheit greifbar.

Sven Johne (geb. 1976 in Rügen, lebt in Leipzig) vermischt in seinen Foto-Text-Arbeiten unterschiedliche Methoden politischer Sinnstiftung. Als gleichermaßen künstlerischer Fotograf wie investigativ arbeitender Journalist rekonstruiert und dokumentiert Johne brisante historische Ereignisse seiner Heimat, der ehemaligen DDR. Die hier erstmals im Museumskontext gezeigte Installation Demmin von Sven Johne besteht aus sechs topografischen Landkarten, die in einem zarten Grauton auf schneeweißem Hintergrund gedruckt sind und das Gebiet der gleichnamigen Stadt in Mecklenburg-Vorpommern zeigen. Die Flussufer sind mit zahllosen kleinen Stecknadeln markiert. Die Arbeit erschließt sich über das historische Wissen: Die Stadt Demmin wurde am Ende des Zweiten Weltkriegs der Roten Armee kampflos übergeben. Dennoch ereignete sich hier die größte bekannte Massenselbsttötung der deutschen Geschichte. Ihren Höhepunkt erreichte die Suizidwelle nach den Feierlichkeiten der Soldat*innen am 1. Mai 1945. 1.200 Menschen kamen in den Flüssen Peene, Trebel und Tollense ums Leben. Sven Johne versucht mit einer subtilen Kartografierung des Massenselbstmords eine Dokumentation der offiziell immer noch ungeklärten historischen Tatsachen. Zum Zeichen des Gedenkens markiert er nicht nur die fiktiven Fundorte der Leichen, sondern fügt dem detailgetreuen Schaubild zwei Texte hinzu: einen sachlichen Quellentext und einen Augenzeugenbericht. Die fünfteilige Foto-Text-Sequenz Ship Cancellation zeigt eine ruhige Meeresoberfläche, die im Gegensatz zum Bildtitel steht. Ein ungewöhnlicher Gestaltungswille seitens des Künstlers tritt durch die serielle Motivwahl und Komposition zu Tage: Eine durchgängige Horizontlinie teilt die Bildfläche in ein Verhältnis von zwei Dritteln Wasser und einem Drittel Himmel. Das gleichfalls nach einem seriellen Schema erstellte Textmaterial auf dem Rahmenglas verstärkt den Eindruck der Intentionalität: Der Beschreibung des Schiffs folgen die sachliche Schilderung des Ablaufs der Katastrophe sowie der Augenzeug*innenbericht eines Überlebenden. Das Nebeneinander von visueller und textueller Information suggeriert einen Zusammenhang, der jedoch an dem gezeigten Bildmaterial nicht verifiziert werden kann: Wer sind die Augenzeug*innen? Wie kommt der Künstler an die Informationen? Fand das Unglück genau an dem abgebildeten Ort statt? Die Sinnstiftung wird auf einen außerkünstlerischen Ort verwiesen.

Milo Köpp (geb. 1962 in Soest, lebt in Münster) ist ein deutscher Bildhauer und Maler. Das Kunstwerk Olim, eine Krankheitsgeschichte in Briefen – der Leiden erster Teil besteht aus einer Serie von zehn Briefen (sie sind von eins bis elf nummeriert, aber der fünfte Text fehlt), die in einem schmalen Büchlein abgedruckt sind. Auf der beigefügten CD werden die Botschaften vorgelesen. In den Briefen wendet sich Olim, ein zeitgenössischer Künstler, an einen Arzt, und er sagt gleich zu Beginn, warum er schreibt. Er braucht „ein Leiden, eine Sucht, nichts wirklich Ernstes und ganz sicher nichts Tödliches“, das ihn dazu bewegt, große Dinge zu erschaffen, echte Kunstwerke. Kurz: Olim wünscht sich eine Krankheit, die ihn zu einem hochproduktiven Künstlergenie macht. Eine medizinische Antwort oder Erwiderung darauf gibt es nicht. Am Ende zeigt sich: Die Briefe sind ungelogen ein vollkommen ehrlicher Seelenstrip. Und: O-l-i-m (M-i-l-o) leidet wahrscheinlich an einem Palindrom. Er sollte beginnen, sein Leben von hinten her aufzurollen.

Walid Raad (geb. 1967 in Chbanieh im Libanon, lebt in Beirut und New York) gründete als Künstler im Jahr 1999 die The Atlas Group. Sie wurden in zahlreichen renommierten Ausstellungen vertreten, wie der Documenta 11 (2002) oder der Whitney Biennale (2002). Die Atlas Group hat es sich zum Ziel gesetzt, Gegenwart und Geschichte des Libanon, vor allem die Jahre des libanesischen Bürgerkriegs (1975–1990/91), zu dokumentieren und zu erforschen. Die Archive der The Atlas Group befinden sich in New York und Beirut. Die libanesischen Bürgerkriege (1975–1991) sowie die Gegenwartsgeschichte des Libanon sind das durchgängige künstlerische Thema der Gruppe. Der Titel des Videos We Can Make Rain But No One Came To Ask klingt wie ein verschlüsselter Code. Unklar, von wem er stammt. Unklar auch, ob nicht auch der Bomben-Regen gemeint sein könnte. Der begleitende Wandtext verweist auf eine angebliche Kollaboration zwischen dem staatlichen Chef-Untersucher von Autobomben-Detonationen Yussef Bitar und Georges Semerdijan, einem 1990 ermordeten Fotojournalisten und Videofilmer. Das Video zeigt Aufnahmen, Diagramme und Aufzeichnungen, die sich mit der Autobomben-Explosion in der Furn Ech Chubak Nachbarschaft in Beirut am 21. Januar 1986 auseinandersetzen. Walid Raad macht auf ein mediales Grundproblem aufmerksam: Das reale Sterben, die täglichen Zerstörungen in den Krisengebieten und das Leiden der Betroffenen sind medial nur begrenzt fassbar. Um der Gefahr der nivellierenden Verwischung der Ereignisse zu begegnen, entwickelt er ein Vexierspiel mit realen und erfundenen Identitäten, Bildern und Ereignissen. Walid Raad leistet zeitnah etwas, das Geschichtsschreibung erst mit historischen Abstand vermag: Er stiftet künstlerische Ansatzpunkte für sinnvolle Zusammenhänge und regt zu einer Reflexion über Geschichte, Kunst und deren Wahrnehmung an. Was ist Wahrheit – was ist Lüge unter den Bedingungen eines anhaltenden Bürgerkriegs?

Hans Winkler (geb. 1955 in Rott am Inn, lebt in Berlin und New York) ist ein deutscher Künstler, der zumeist im öffentlichen Raum arbeitet. Er lässt das Publikum an einem künstlerischen Recherche- und Dokumentationsprozess teilnehmen. Die architektonische Installation Held-Saga – Die Berghütte im Wald ist der Nachbau eines Nachbaus der Behausung des Schriftstellers Franz Held (1862–1908), dessen Werk, Biografie und Lebensende zweifelhaft erscheinen, und dessen Werke weder im Buchhandel noch antiquarisch erhältlich sind. Seltsam spärlich ist auch die Quellensituation. Bis auf eine Tatsache: Franz Held scheint der Vater zweier bekannter Personen der Nachkriegskulturszene gewesen zu sein: des Dadaisten John Heartfield und des Verlegers Wieland Herzfelde. Der Aktions- und Installationskünstler Hans Winkler hat sich einen eigenen Weg zu diesem vergessenen Autor gebahnt. Seine Recherchen haben die unglaubliche Lebensgeschichte des Schriftstellers zu Tage gefördert: Franz Held (eigentlich Franz Herzfeld) wurde in eine gut situierten Düsseldorfer Unternehmerfamilie geboren. Mit 14 Jahren gewann er den Dramen-Wettbewerb der Stadt Düsseldorf. Er studierte zunächst Jura, dann Philologie, Ästhetik und Literaturgeschichte. In seinen Romanen und Dramen entwickelte er provokante, absurde und nihilistische Situationen. 1895 wurde Held wegen Gotteslästerung angeklagt. Und nun nimmt das Schicksal seinen Lauf: Franz Held verlässt Deutschland und flieht mit Frau und drei Kindern über die Schweiz nach Österreich. Zuflucht bietet ihm eine Berghütte auf dem Gaisberg in Aigen, südlich von Salzburg. Doch nur für kurze Zeit: Aus ungeklärten Umständen verschwinden er und seine Frau von hier, eines Tages im Jahr 1899. Sie lassen ihre vier Kinder zurück, die nach einigen Tagen verwahrlost vom Bürgermeister gefunden werden. Seither verliert sich die Spur des Schriftstellers. Zwei Quellen erlauben, eine Annäherung an seine letzten Lebensjahre: Im Jahr 1900 soll Franz Held in Gries bei Bozen aufgegriffen und in eine Bozener Irrenanstalt gesteckt worden sein. 1908 verstirbt er. Hans Winkler stieß bei seinen Recherchen auf die Rekonstruktion einer Hütte, die der Sohn John Heartfield in den 1950er Jahren in Waldsieversdorf als Erinnerung an seine glückliche Kindheit für seine Enkel gebaut haben soll. Winkler baut sie scheinbar detailgetreu ein zweites nach: Er stellt die Bibliothek mit elf von Franz Held verfassten Theaterstücken (z.B. Eine Afrikareise durchs Marsfeld oder Ein Fest auf der Bastille) sowie Büchern seiner Lieblingsautoren (darunter Henrik Ibsen, Heinrich Heine, Oscar Wilde, Michail Bakunin, Alphonse Daudet, Friedrich Nietzsche, Henry David Thoreau) nach. Eine Wandprojektion zeigt ein „authentisches“ Alpenpanorama. Es wurde bei Aigen/ Salzburg von Hans Winkler aufgenommen und fügt der seltsam berührenden Familiengeschichte – der Held-Saga – ein dokumentarisches Element hinzu. Das Leben selbst erzählt manchmal unglaubliche Geschichten.

Kuratorinnen: Dr. Gail B. Kirkpatrick, Dr. Susanne Düchting, Julia Wirxel

Die Ausstellung wird gefördert von der Mondriaan Stichting und der Botschaft des Königreichs der Niederlande.

Das Programm der AZKM wird vom Freundeskreis der AZKM unterstützt.