16.7. – 4.9.2005,

Kathrin Schlegel, Andreas Gehlen. Säle in frischem und leichtem Schmuck – Zwei Installationen zum Jubiläum 1200 Jahre Bistum Münster,

, AZKM

Kathrin Schlegel und Andreas Gehlen markieren in ihren neuen Installationen für die Ausstellung Säle in frischem und leichtem Schmuck Schwebemomente. In ihrer Auseinandersetzung mit institutionalisierter Wertevermittlung betonen sie die Ambivalenzen zeitgemäßer Religiosität.

Andreas Gehlen experimentiert in seinen begehbaren Rauminstallationen mit fragilen Schwebeverhältnisse, die im Moment höchster Dynamik innehalten. Eingefroren in einem performativen Still nimmt die zweiteilige Installation segmentation cavity in zero gravity / make music / 45 comments Bezug auf die architektonischen Gegebenheiten der Ausstellungshalle und die Ausblicke in den Stadtraum. Eine durchsichtige Plexiglaskapsel aus einer anderen Galaxie scheint sich verirrt zu haben. Das unbekannte Flugobjekt trägt Spuren des Aufpralls. Eine Vielzahl plastischer Ordnungselementen haben seine Geschwindigkeit gebremst und bringen es in eine vorläufige Ruheposition. Der phantastische Schöpfungskosmos von Andreas Gehlen für die Ausstellungshalle zeitgenössische Kunst Münster erzählt sich selbst weiter: Durch den Aufprall sprießen die Baumstümpfen neu, farbige Kabelbäume zwingen die Baumstümpfe zum Wachstum. Organisches und anorganisches Material durchbricht die dichte Lattenkonstruktion und sorgt dafür, dass die kosmische Landestation schwerelos im Raum schwebt. Chaos und Ordnung, Zerfall und Wachstum, Kräfte und Gegenkräfte halten sich im Gleichgewicht. Farbige Seile spannen die Installation zwischen Himmel und Erde. Nichts mehr scheint wirklich geerdet. Blicken die Betrachterinnen aus dem Fenster der Ausstellungshalle, finden sie korrespondierende Architekturelemente, die mit der Welt der installativen Ordnungselemente geheime Allianzen eingehen. Die verborgenen Gesetze dieser kosmischen Situation werden nicht aufgelöst. Auch nicht, wenn die Besucherinnen hinter die Kulissen der Installation tritt, denn hier erwarten sie neue Fragestellungen.

Kathrin Schlegel untersucht in ihren Installationen die subtilen Gewohnheiten ritualisierten Benehmens. In überzeichneten Alltagsszenen schärft sie die Wahrnehmung für die Ambivalenzen kanonisierter Umgangsformen und denkt Ritualfolgen neu. Für die Jubliläums-Ausstellung in der Ausstellungshalle zeitgenössische Kunst Münster hatte Kathrin Schlegel zunächst eine Installation aus Kirchenbänken konzipiert, die sie einer der im Jubiläumsjahr geschlossenen Kirchen entnehmen wollte. Diese Arbeit konnte nicht realisiert werden. Ein Relikt aus der Konzeption sind eine Anzahl toter Schmetterlinge und Nachtigallen, die sie in ihrer neuen Installation Ohne Titel konserviert hat. Die Künstlerin spielt mit Metaphern. In dem überdimensionalen – fast sakral anmutenden – Kühlturm lässt Kathrin Schlegel die Paradiesgefährten zusammen mit einem Springbrunnen im Eisregen bei minus 18 Grad Celsius erstarren. Die industrielle Kältezelle (3,5 m x 2,3 m im Grundriss, 3,5 m Höhe) als profaner hortus conclusus fügt sich in die Architektur der Ausstellungshalle ein und ist als Raum im Raum für die Besucherinnen zugänglich. Die märchenhaft-ironische Situation im Inneren des Wellblechcontainers wird durch eine Neonröhre beleuchtet. Die Suche nach Orientierung in einer Welt gefrorener Sinnlichkeit ist für die Künstlerin ein Weg ambivalenter Erkenntnisprozesse. In ihren künstlerischen Arbeiten begibt sich Kathrin Schlegel auf die Suche nach übrig geblieben ‚wertvollen’ Ritualen. Diese Relikte verändert, transformiert und formuliert sie neu. In der Auseinandersetzung mit einer übergeordneten Bildsprache erschließen sich den Besucherinnen der Ausstellung vielfältige sinnliche wie philosophisch-theologische Anspielungen. Die Installationen von Gehlen und Schlegel spiegeln das essenzielle menschliche Bedürfnis nach Sinnzusammenhängen, emotionaler Stabilität und individueller Hoffnungen in einer scheinbar chaotischen Unendlichkeit wider. Weder vordergründig affirmativ, noch oberflächlich kritisch ablehnend liefern beide Künstler*innen ein individuelles Protokoll ernsthafter Suche nach möglichen Grundlagen zeitgemäßer Religiosität – verstanden als Orientierungssystem zwischen allen gesellschaftlichen und individuellen Ambivalenzen.

Andreas Gehlen (geb. 1969 in Bonn) hat Freie Kunst an der HBK in Braunschweig in der Klasse von Prof. Thomas Virnich und Prof. Raimund Kummer studiert und war Meisterschüler bei Prof. Walter Dahn. 2004 nahm er ein Stipendium auf Schloss Ringenberg wahr. Seine Arbeiten waren unter anderem im Bonner Kunstverein (2004), und in der Simultanhalle Köln (2004) und in der Studiogalerie des Kunstverein Braunschweig (2002) zu sehen.

Kathrin Schlegel (geb. 1977 in Nordhorn, lebt in Amsterdam) begann 1997 ihr Kunststudium an der Academy of Fine Arts and Design AKI in Enschede und wechselte 2001 zur Kunstakademie in Münster. Hier studierte sie in der Klasse von Timm Ulrichs und Guillaume Bijl, bei dem sie 2002 Meisterschülerin wurde. Das Cusanus-Werk zeichnete sie 2001 mit einem Künstlerstipendium aus. Ihre ortsspezifischen Arbeiten wurden in verschiedenen Zusammenhängen gezeigt unter anderem im Centrum Beeldende Kunst Doordrecht (2002) und im Arti et Amicitiae Amsterdam (2005).

Kuratorin: Dr. Gail B. Kirkpatrick

Die Ausstellung wird unterstützt von der Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen Kulturarbeit e.V. und vom Land Nordrhein-Westfalen.

Das Programm der AZKM wird vom Freundeskreis der AZKM unterstützt.