21.5. – 26.6.2005,

Julia Heinrich. Positionen zur Malerei XIX – "XXX"

, AZKM

Mit der Einzelausstellung XXX präsentiert Julia Heinrich erstmals eine größere Bandbreite ihres Schaffens. Aus Begegnungen, Dialogen und Situationen des Alltags entstehen Stickereien als Träger von Empfindungen und Gedanken. Mit dem Kreuzstich wendet sich die Künstlerin gegen das „time is money" der Gegenwart. In der Ausstellung XXX zeigt Julia Heinrich Stickerei-Serien – entstanden in langsamer und geduldiger Arbeit – eine Produktionsform als Protest gegen pompöses Produzieren und die Gefallsucht des Spektakulären. Die Wortobjekte sind als verdichtete Protokolle flüchtiger Momente und versäumter Gelegenheiten zu lesen. Mit zuweilen schwarzem Humor verweist die Künstlerin auf die Hoffnung der zweiten Chance.

Julia Heinrich zählt sich selbst zu den Künstler*innen der narrativen Kunst. Im vierten Studienjahr entdeckte sie für sich die Stickerei als eine unkomplizierte Technik extremer Konzentration und Reduktion. „Mich hat die Stickerei aufgrund zweier Aspekte angezogen. Dem Zeitlichen: Es ist ein Medium, welches dem Künstler einen ganz eigenen Gebrauch von Zeit auferlegt – man kann nicht schnell sticken. Und dem Ursprünglichen: Schon in den alten Mythen und Legenden findet man immer wieder Frauen, die sticken, stricken, weben oder einfach einen Faden zu ihrem Sinnbild machen. Man denke nur an Penelope, Ariane und Arachne", erklärt die 1972 in Münster geborene Künstlerin ihre Affinität zum textilen Medium. „Ich fühle mich von dem Alltäglichen, Banalen und Einfachen angezogen. Für einen einzigen Kreuzstich muss ich mir im Verhältnis zu dem geringen visuellen Aufsehen, welches dieser erregt, viel Zeit nehmen. Gerade diese Unrentabilität halte ich in der heutigen Gesellschaft für aufmerksamkeitsbedürftig. Für mich ist sie lebensnotwendig.", sagt Julia Heinrich.

In einer für diese Ausstellung eigens konzipierten Raumsituation werden mehrere gestickte Bilderzyklen und Einzelarbeiten gezeigt. Eines dieser Werkzyklen ist die Reihe Les Coupons – die Abschnitte (Journal Intim): Bestickte Stoffreste, die auf einem langen schmalen Tisch aufgereiht sind, der den Raum der Ausstellungshalle zeitgenössische Kunst durchquert. Die handschriftlich vorskizzierten und nachgestickten Wortobjekte, hin und wieder mit unterschiedlichen Garnfarben in einer Flächenpartie gestickt, erzählen von sehr persönlichen Dingen. In ihrer Prägnanz (Rot sehen, Traurigkeit, Nabelschnur, Lebenslinie, Schnecke, Loch) lesen sie sich wie Fragmente eines kryptischen Tagebuchs. Durch ihre Unregelmäßigkeit hinterlassen sie lesbare Spuren einer anstrengenden, gefühlsbetonten Bewegung. In dem Bilderzyklus Der polnische Mantel setzt sich Julia Heinrich mit Picassos Lithografie-Serie Die Frau im Lehnstuhl auseinander. Neben Begriffen sind hier mit dünnen Fäden genähte Zeichnungen zu entdecken, in denen erstmals figurative Momente zum Tragen kommen. Die Werkreihe "Ratschläge und was man sonst noch sagt" kann als Gegenpol zu den Tagebuchfragmenten verstanden werden. Hier lesen die Betrachter*innen Sentenzen wie „Du mußt Du selbst sein", „Meine Frau findet Deine Kunst scheiße" oder „Du mußt mehr schlafen". Sprüche, von denen die Künstlerin sagt, dass sie an sie von außen herangetragen werden. Binsenwahrheiten, die häufig gefühllos und hohl klingen. Diese Stoffarbeiten hat Julia Heinrich bezeichnenderweise maschinell produzieren lassen.

Das Bild der Stickerin, die in sozialer Abgeschiedenheit der kleinteiligen Arbeit am textilen Gewirke nachgeht, ist zum ironisch belächelten und unzeitgemäßen Inbegriff weiblichen Rollenverhaltens geworden. Die Stickerei als Medium zeitgenössischen Kunstwollens heute zu benutzen, bedeutet eine Auseinandersetzung mit diesem despektierlichen Klischee. Julia Heinrich begegnet dem vorschnellen Urteil über die unzeitgemäße Methode mit dem Verweis auf die prozessuale Entstehung von verdichteter Körperlichkeit: der Stoff wird schwerer und die darin wirksame Botschaft existenzieller und greifbarer. Die Besucher*innen der Ausstellung können die bestickten Stoffobjekte in die Hand nehmen, um sich über die taktile Begegnung die tastbar gewordene Lebenszeit zu erschließen.

Julia Heinrich (geb. 1972 in Münster, lebt in Münster) ist ausgebildete Moderntänzerin der Folkwang-Hochschule (Essen) und wendete sich 1992 von der darstellenden zur bildenden Kunst und absolvierte das Studium der Freien Kunst an der "École Supérieure d`Art de Brest" (Frankreich). Es folgten Ausstellungen in London im Waterstone’s Piccadilly, Chain Bookseller (2000) und unter anderem in Münster im Westfälischen Kunstverein (2002). Sie nutzt ihren interdisziplinären Kontext um Projekte zu organisieren wie im Jahr 2005 als sie im Rahmen des Projekts Weit weg, - und doch so nah: Fliegen mit der Bahn 18 Künstler*innen unterschiedlicher Generationen, Professionen und Herkunft versammelte, die sich bzw. ihre Arbeit durch Plakate in lokalen Zügen präsentierten.

Kuratorin: Dr. Gail B. Kirkpatrick

Das Programm der AZKM wird vom Freundeskreis der AZKM unterstützt.