26.11.2011 – 12.2.2012,

Ann Veronica Janssens: Lichtwerke im Schatten der Ortlosigkeit

, AZKM

Man bewegt sich in dem großen, völlig verdunkelten Saal der Ausstellungshalle, der nur durch ein blitzendes Licht erhellt wird. Verschiedene abstrakte Muster, erzeugt aus starken Lichtquellen, erscheinen plötzlich in der Ferne. Ihre Intensität blendet, macht schwindelig, fesselt und vertreibt. Ihr Anblick wirkt physisch ergreifend. Paradoxerweise spüren die Betrachter*innen das immaterielle Licht als ein Gegenüber im Raum. Es gibt Lichtmuster, die wie Korridore ins Nichts führen. Oder stroboskopische Effekte, die das Auge und mit ihm das körperliche Empfinden im Raum zum Tanzen bringen. Doch es geht Ann Veronica Janssens nicht um eine existenzielle Störung der Wahrnehmung, sondern vielmehr um das Gegenteil: um die Sensibilisierung des Wahrnehmungsvermögens schlechthin. Janssens erzeugt mit ihrer Kunst eine atmosphärische Fokussierung der Erfahrungen, die von visuellen Eindrücken ausgelöst wird und als solche die sehende Person mit dem umgebenden Raum und ihre eigene Körperlichkeit vereint. Ihre Kunst vergegenwärtigt die manchmal verloren gegangene Erkenntnis, dass wir nicht nur rational erkennende Wesen sind, die die Welt als Gegenstand unserer neugierigen Betrachtung verstehen, sondern dass wir letztendlich durch das Vermögen unserer Wahrnehmung stets eins sind mit dieser Welt.

In einem anderen völlig abgedunkelten Raum der AZKM gibt es sechs unterschiedlich große Projektionen von nur schwer definierbaren Phänomenen, die zum Teil wie kosmische Nebel anmuten: Wolken aus diffusem Spray zerstäubter Wasserpartikel, herab fallender Sternenglimmer, Licht, das von fernen Planeten zu einem gestischen Zeichen im Raum wird. Eine Ultra-Fischaugenkamera tastet einen unebenen Fußboden ab und simuliert eine phantastische Google-Earth-Perspektive. Die Betrachter*innen werden in den Sog des Undefinierbaren hineingezogen.

Im kleinen Kabinett der Ausstellungshalle wird ein Film an die Wand projiziert. Eine in der Hand gehaltene Kamera tastet mit ihrem Objektiv Boden und Wände eines leeren Raumes ab. Aber wer hält die Kamera? Und: An welchem Ort wird eigentlich gefilmt? Man gewinnt allmählich das Gefühl, dass man von der Betrachter*in zur Akteur*in wird: als ob die Kamera genau den Raum abtastet, an dem sich die Betrachter*innen gerade befinden. Die Wahrnehmung wird zum subtilen Ausgangspunkt der Reflexion unterschiedlicher Parameter des räumlich-logischen Sehens. Doch stets entzieht sich der Gegenstand und entfacht den Dialog zwischen Objekt und Subjekt neu.

Im Eingangsbereich befindet sich ein mit Flüssigkeit gefüllter Würfel mit einer farbigen Projektionsfolie. Die besondere Wirkung dieses Raumkörpers entsteht durch Licht, Lichtbrechung und Reflexion. Dieses Objekt mit dem anspielungsreichen Titel Acapulco Kiss ist wiederum ein Experiment mit Farbe, Fläche und Volumina unterschiedlicher Dichte.

Ann Veronica Janssens künstlerische Praxis kann als Forschungsreise in die sinnliche Erfahrbarkeit von Realität verstanden werden. Die in Belgien lebende Künstlerin benutzt unterschiedliche künstlerische Versuchsanordnungen – wie Installationen, Projektionen, urbane Interventionen, Fotografien oder Skulpturen – und lädt die Betrachter*innen ein, die Grenzbereiche neuer sinnlicher Orte auf der Grenzlinie zwischen Schwindel und Blendung zu betreten. Ihre minimalistischen Arbeiten betonen die Flüchtigkeit, Vergänglichkeit und den fragilen Charakter des Sichtbaren. Die Verräumlichung des Lichts, blendende Farben und durchscheinend reflektierende Oberflächen tragen dazu bei, die Unbeständigkeit in der Wahrnehmung von Raum und Zeit zu offenbaren und die Materialität zu destabilisieren. In ihren irritierenden Rauminstallationen findet sie konzeptuelle Annäherungen an Begriffe wie Perzeption, Leere, Materialität, Immaterialität und Unendlichkeit.

Um die Essenz des Sehens spürbar zu machen, reduziert die Künstlerin die Möglichkeiten unserer visuellen Wahrnehmung auf ein Minimum. Die Betrachter*innen erleben das Kunstwerk als einen Ort der Ortlosigkeit, in dem sie die sinnliche Ausstrahlung mit ihrer Wahrnehmung abtasten. Die Kraft des Lichtes und ihre Gegenspielerin die Dunkelheit werden in den Kunstwerken so eingesetzt, dass die sinnlichen Bedingungen des Sehens auf das Intensivste erlebbar werden.

Der Raum und damit die konkreten Bedingungen der Architektur, in der sich die illuminativen Raumstrategien der Künstlerin ereignen, werden zum Katalysator auf der Suche nach dem Wesen des Sehens; die sich in visuellen Prozessen an die Wahrheit herantastet. Sehen wird zu einem ästhetischen Erlebnis, in dem grundsätzliche Fragen nach der Orientierung in Raum und Zeit, aufscheinen, nicht nur als optische, sondern ebenso als physische und körperliche Erfahrung. Das visuell kaum Greifbare ihrer Installationen macht den Akt des Sehens zu einem Moment der Kontemplation und wirft gleichzeitig Fragen nach dem Wesen der Erkenntnis auf. Obwohl man zunächst meinen könnte, dass das Licht und der Nebel in Janssens Kunst Erinnerungen an Naturphänomene erwecken, scheint die Erhabenheit eines Sonnenaufgangs oder die romantisch anmutende Aura einer vernebelten Landschaft in ihren Lichtinstallationen kaum auf. Ann Veronica Janssens Arbeiten evozieren keine Wiedererinnerung ästhetischer Erfahrungen, sondern zielen auf den Erkenntniswert als intensiver Forschung und Reflexion des wahrgenommenen Phänomens selbst.

Ann Veronica Janssens (geb. 1956 in Folkestone, lebt in Brüssel) war in zahlreichen internationalen Ausstellungen vertreten, u.a. bei Unexhibit in der Generali Foundation in Wien, der Manifesta 8 in Nordafrika, der 1. Biennale für Internationale Lichtkunst in Unna, bei UN-SCR-1325 im Chelsea Art Museum in NY u.a. 1999 war sie bei der 48. Biennale in Venedig vertreten. 2001 erhielt sie eine Einzelausstellung in der Neuen Nationalgalerie Berlin, 2007 im Museum Morsbroich. Ihre Arbeiten finden sich internationalen Sammlungen in Spanien, Frankreich und Österreich. In Deutschland wird sie von Esther Schipper in Berlin vertreten.

Kuratorin: Dr. Gail B. Kirkpatrick

Das Programm der AZKM wird vom Freundeskreis der AZKM unterstützt.